"Es braucht einen langfristigen Beziehungsaufbau"

"Es braucht einen langfristigen Beziehungsaufbau"
Fabian Püschel vom Betreuten Wohnen des SKM (Sozialdienst katholischer Männer) in Köln spricht über Angebote zum Empowerment von geflüchteten Mädchen, Frauen und Familien sowie anderen besonders schutzbedürftigen Personen
Elena Knežević

Herr Püschel, Sie arbeiten mit Geflüchteten. Was ist das Besondere an Ihrer Arbeit?
Ich arbeite in einem erfahrenen Team mit sechs weiteren hauptamtlichen Kolleg:innen in Köln-Lindenthal. Wir sind die Aids-Hilfen des SKM. Das Angebot des ambulant betreuten Wohnens richtet sich an Menschen, die HIV-positiv sind und Unterstützung benötigen. Neben dieser Betreuung sind wir Ansprechpartner im Rahmen der Beratung (auch anonym). Darüber hinaus leite ich ein Projekt für schutzbedürftige Personen, welches von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration finanziert wird. Meine Arbeit in Köln richtet sich an geflüchtete Menschen mit besonderem Schutzbedarf aufgrund ihrer sexuellen Orientierung (LSBTTI – lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intergeschlechtlich).

"Betroffene haben aufgrund ihres Erfahrungshintergrundes oft ein großes Misstrauen entwickelt. Dies erschwert den Kontaktaufbau erheblich."

Was bedeutet "besonderer Schutzbedarf"? Haben den nicht alle Geflüchteten?
Diese Frage begegnet mir sehr häufig – es ist eine rhetorische Frage. Ich selektiere nicht! Ich frage vor meiner Beratung nicht: "Bist du schwul? Wenn nicht, dann bist du hier falsch!" Eine Differenzierung macht auch keinen Sinn. Fest steht, dass geflüchtete Menschen, die einen LSBTTI-Hintergrund haben, oftmals in ihrer Heimat Gewalterfahrungen gemacht haben. Viele sind traumatisiert und psychisch sehr belastet. Darüber hinaus hört die Flucht mit der Ankunft in Deutschland nicht auf, wenn in Unterkünften Gewalterfahrungen, Diskriminierungen und Vorurteile fortgeführt werden. Betroffene haben aufgrund ihres Erfahrungshintergrundes oft ein großes Misstrauen entwickelt. Dies erschwert den Kontaktaufbau erheblich. Darüber hinaus gibt es bei vielen Menschen, die ich betreue, existenzielle Notsituationen, denen ich mit konkreten Unterstützungs- und Weitervermittlungsangeboten begegne. Beispielhaft zu nennen sind die unzureichende gesundheitliche Versorgung, behandlungsbedürftige Erkrankungen, eine unklare aufenthaltsrechtliche Situation, Geldnöte/Schulden, die unklare Wohnsituation oder Überforderung bei der Arbeitssuche. Aus diesem Grund bin ich sehr froh über die Niedrigschwelligkeit des Angebots.

"Die Praxis hat gezeigt, dass ein 'Schubladendenken', beispielsweise eine Einteilung von Hilfesuchenden nach der sexuellen Orientierung im Voraus, kontraproduktiv ist."

Wie gewinnen Sie das Vertrauen der Menschen, die zu Ihnen kommen?
Die Praxis hat gezeigt, dass ein "Schubladendenken", beispielsweise eine Einteilung von Hilfesuchenden nach der sexuellen Orientierung im Voraus, kontraproduktiv ist, ihren Schutz sogar gefährden und den Beziehungsaufbau in einem geschützten Rahmen verhindern kann. Die sexuelle Orientierung ist ein sehr privates Thema, und aus diesem Grund braucht es ein niedrigschwelliges Angebot, das sich an alle richtet und niemanden ausklammert. Erst über einen langfristigen Beziehungsaufbau öffnet sich das Fenster, um über solch private Belange überhaupt sprechen zu können. Darüber hinaus sind unter anderem Regelstrukturen zu Ärzt:innen, Ämtern, Behörden und sozialen Diensten eine wichtige Säule meiner Arbeit.

Wie sieht das konkret aus?
Da ich aufgrund meines anderen Tätigkeitsfeldes bei den Aids-Hilfen auf ein Netzwerk mit unterschiedlichen Ärzt:innen zurückgreifen kann, findet beispielsweise eine offene Beratungsstunde zu gesundheitlichen Fragen vor Ort statt. Es ist enorm wichtig, in meiner Arbeit flexibel auf die aktuellen Bedarfe im Einzelfall-Setting einzugehen und darüber hinaus mein gewachsenes Know-how aus anderen Tätigkeitsbereichen für das Projekt zu nutzen.

Wer sind Ihre Kooperationspartner vor Ort in Köln?
Eine entscheidende Säule meiner Arbeit sind der Kontakt und der Austausch mit den Mitarbeitenden in den Unterkünften für Geflüchtete. Ohne diese Unterstützung würde ein entscheidendes Puzzleteil fehlen. Oft geht es darum, Hilfen zu koordinieren, damit eine gute Zusammenarbeit gewährleistet werden kann. Darüber hinaus geht es entscheidend um die Sensibilisierung für die Zielgruppe, das ist enorm wichtig. Oft höre ich: "Bei uns gibt es niemanden für dein Projekt." Das ist keine böswillige Aussage, aber die Erfahrung zeigt, dass diese Annahme oft falsch ist. Darum ist es enorm wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten, zu informieren und in den Unterkünften präsent zu sein. Diese Präsenz ist hierbei eine einfache, aber – getreu dem Motto "Weniger ist mehr" – eine enorm wichtige Aufgabe. Neben dem großen SKM-internen Netzwerk gibt es weitere Kooperationspartner. In erster Linie ist hier der rubicon e. V. zu nennen. Ich bin aber auch mit Geflüchtetenunterkünften unter anderer Trägerschaft, mit verschiedenen Migrantenselbsthilfeorganisationen, dem Flüchtlingsrat Köln und der Stadt Köln vernetzt.

"Mir ist es wichtig, mit meiner Arbeit zu überzeugen."

Wie gestaltet sich die Arbeit bei einem katholischen Verband mit LSBTTI-Geflüchteten? Sehen Sie da keinen Widerspruch?
Momentan nimmt die Kritik an der katholischen Kirche aufgrund aktueller Pressemitteilungen zu, beispielsweise zum Outing in der katholischen Kirche (#OutInChurch). Es gibt viel Kritik von außen und von innen. Mir ist es wichtig, mit meiner Arbeit zu überzeugen. Das heißt auch, mit meiner Arbeit Stellung zu beziehen und für die Situation geflüchteter Menschen mit einem LSBTTI-Hintergrund zu sensibilisieren. Sowohl SKM-intern als auch -extern versuche ich diese Sensibilisierungsarbeit zu leisten. Ich sehe dies als bedeutsame Aufgabe an und würde sogar behaupten, dass die Projektarbeit gerade deswegen zu einem katholischen Träger passt.

Welche Erfolge konnten Sie feiern? Und welche Niederschläge mussten Sie verkraften?
Erfolge meiner Arbeit zu benennen ist keine einfache Aufgabe. Grundsätzlich würde ich jedes angenommene Angebot und die damit verbundene Begegnung als Erfolg bezeichnen. Insbesondere in Pandemiezeiten passiert nicht viel. Viele haben Schwierigkeiten, den Kontakt mit Ämtern und Behörden fortzusetzen, da digitale Kommunikationswege den direkten Kontakt ersetzen sollen. Geflüchtete, die bereits seit mehreren Jahren in Deutschland sind, leiden häufig an Motivations- und Antriebslosigkeit. Dies liegt an vielen Einflussfaktoren und nicht an einem "schlechten Willen" der hilfesuchenden Menschen. Vielmehr kommt bei vielen Menschen, die sich bereits aufgrund von Misstrauen, Ängsten und ihrer persönlichen Lage sozial zurückziehen, der belastende Faktor Corona-Pandemie noch obendrauf. Das zeigt sich vor allem bei existenziellen Nöten wie der Kündigung einer Arbeitsstelle, dem Verlust der Wohnung oder gesundheitlichen Themen.

Welche neuen Fragestellungen haben sich bei der Beratung im Zuge der Corona-Pandemie ergeben?
Ich bin froh, dass ich mit meiner Arbeit auch ein Informations- und Gesprächsangebot über Themen rund um die pandemische Lage im letzten Jahr anbieten konnte. Auf Fragen wie: "Wie bekomme ich einen Impftermin?", "Wie ist eine Quarantäne einzuhalten?", "Gibt es Informationen in meiner Muttersprache?" und mehr konnte ich in meiner Beratung gezielt eingehen. Aber auch Fragen zur digitalen Kommunikation, zu Integrations- und Sprachkursen und zur langen Wartezeit bei der Ausländerbehörde kamen vermehrt vor.

Was wünschen Sie sich künftig für Ihre Arbeit mit Geflüchteten?
Für die Zukunft wünsche ich mir die Möglichkeit, weiterhin in diesem Projekt tätig zu sein und das, was ich in die Projektarbeit investiert habe, nachhaltig nutzen zu können. Und ich möchte, dass es mehr Verständnis und Respekt für den Mut derjenigen Menschen gibt, die nicht davor zurückschrecken, alles für ihr zukünftiges Leben in die Waagschale zu werfen und für ihre Träume zu kämpfen.

Dieser Text erschien zuerst im Caritas-Magazin Migration und Integration-Info 1 / März 2022

 

Elena Knežević
Foto: Nils Bornemann / ÖVA

Elena Knežević arbeitet als Referentin für Migrationspolitik beim Deutschen Caritasverband. Dort beschäftigt sie sich insbesondere mit Aufnahmeprogrammen wie beispielsweise Community Sponsorship, Resettlement und Humanitärer Aufnahme. Seit Oktober 2018 ist sie Mitglied im Ökumenischen Vorbereitungsausschuss zur Interkulturellen Woche.

Kontakt: Elena.Knezevic@caritas.de

Weitere Informationen

Beispielhafte Kooperation von Caritas und rubicon e.V.
Um der eklatanten psychosozialen Versorgungslücke für LSBTTI und der besonderen Ausgangslage zu begegnen, ist auf Initiative des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen ein Kooperationsprojekt zwischen dem Verein rubicon und dem Caritas-Therapiezentrum für Menschen nach Folter und Flucht (CTZ) auf den Weg gebracht und seit März 2021 umgesetzt worden. Der rubicon e. V. ist eine aus der LSBTTI-Community historisch gewachsene Beratungseinrichtung mit Expertise und bekanntem Alleinstellungsmerkmal als sicherer und geschützter Ort für Geflüchtete mit einem LSBTTI-Hintergrund in Köln. Das CTZ bringt Erfahrungen in der psychosozialen und psychologischen Beratung und Psychotraumatherapie von traumatisierten Flüchtlingen ein.

Ein vergleichbares Kooperationsprojekt wurde bisher nirgends sonst auf den Weg gebracht, weder auf der Ebene zweier so verschiedener Organisationen in Bezug auf Historie und Auftrag noch in der Kombination einer auf Trauma und einer auf LSBTTI spezialisierten Einrichtung für Geflüchtete.