Warum Deutschland auch nach 44 Jahren immer noch eine Interkulturelle Woche braucht

In Ansbach wurde zur Interkulturellen Woche aus vielen bunt bemalten Kacheln das Wort „Vielfalt“ gestaltet. © ÖVA zur IKW
Warum Deutschland auch nach 44 Jahren immer noch eine Interkulturelle Woche braucht

„Rund vier Millionen Ausländer leben in Deutschland. Fast eine Million dieser Ausländer sind mehr als 10 Jahre hier. Für viele unter ihnen ist die Bundesrepublik zum Einwanderungsland geworden.“

Diese Sätze stammen aus dem Jahr 1978. Aufgeschrieben hat sie damals nicht etwa eine progressive Partei – es waren die Kirchen, und zwar im ersten „Gemeinsamen Wort“ zum „Tag des ausländischen Mitbürgers“, aus dem sich später die „Interkulturelle Woche“ entwickeln sollte. Die Aussagen, unterschrieben von den Vorsitzenden der katholischen, evangelischen und griechisch-orthodoxen Kirche, waren einigermaßen revolutionär, denn in der Politik galt noch jahrzehntelang – im Grunde bis zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 – die Doktrin, dass Deutschland eben KEIN Einwanderungsland sei. Die Kirchen haben den Prozess der Einwanderung viel früher erkannt und riefen schon 1975 den „Tag des ausländischen Mitbürgers“ ins Leben.

Sehr schnell beteiligten sich Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Initiativen, Kommunen und auch andere Religionsgemeinschaften. Auf diese Weise ist die Interkulturelle Woche immer Ausdruck der Vielfaltsgesellschaft gewesen.

Mit dem nationalen Tag des Flüchtlings, der bis heute integraler Bestandteil der Interkulturellen Woche ist, verankerte die Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL in den 1980er Jahren ein zentrales Thema. Die Frage danach, wie eine Gesellschaft mit Schutzbedürftigen umgeht, ist eine der Klammern zwischen dem christlichen und dem säkularen Zugang zur Interkulturellen Woche. Sowohl in der Bibel als auch im Grundgesetz wird durchbuchstabiert, welche zentrale Rolle dem Schutz der Grund- und Menschenrechte aller Menschen zukommt – unabhängig von ihrer Herkunft und Zugehörigkeit.

Deshalb ist die Interkulturelle Woche auch nach 44 Jahren noch hochaktuell und wichtig, denn ihre Ziele sind noch lange nicht erreicht, die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen existieren nach wie vor: In Deutschland wie auch in anderen Ländern Europas sinkt die Hemmschwelle für Rassismus in Worten und Taten. Rassismus und Nationalismus verstärken das Trennende und schüren Ängste. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Völkische Überhöhungen wurden durch das „Projekt Europa“ überwunden, ein Zurück in nationalistische Abgrenzung bedroht die gemeinsame Basis. Gegen diese Entwicklungen gilt es, konsequent und fortgesetzt öffentlich Position zu beziehen. Die Stimmen der Vielen, die sich zivilisiert und angemessen und nach wie vor in großer Mehrzahl für ein friedliches Zusammenleben in Deutschland und in Europa einsetzen, müssen den Raum im politischen Diskurs zurückerobern.

Es gilt aber auch, die Werte der EU dort zu verteidigen, wo sie mit Füßen getreten werden. Momentan entzieht sich die Staatengemeinschaft ihren Verpflichtungen. Tausende Menschen bezahlen dies im Mittelmeer mit ihrem Leben. Die Seenotrettung ist eine völkerrechtliche und humanitäre Verpflichtung. Aus Seenot gerettete und in Mittelmeer-Anrainerstaaten der EU gestrandete Schutzsuchende müssen in einem geordneten Verfahren und solidarisch in aufnahmebereite Mitgliedsstaaten aufgenommen werden. Auch muss es Städten und Gemeinden ermöglicht werden, zusätzlich Geflüchtete aufzunehmen. Das Engagement für Grund- und Menschenrechte wird zur Pflicht, wenn die Verletzung dieser Rechte zur Normalität wird.

In der Vielfalt, die in Deutschland über Generationen gewachsen ist, liegt unsere Zukunft. Vielfalt weckt die Kreativität für Problemlösungen, das verbindet und macht stark. Es gilt, diese verbindende Kraft der Vielfalt öffentlich in Erinnerung zu rufen. Es geht um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Bleibt die Wahrung der Menschenwürde auch in Zukunft unser Leitfaden?

Bis heute ist das Eintreten für bessere politische und rechtliche Rahmenbedingungen des Zusammenlebens in Deutschland ein Ziel der Interkulturellen Woche. Aber auch, durch Begegnungen und Kontakte im persönlichen Bereich ein besseres gegenseitiges Verständnis zu entwickeln und zum Abbau von Vorurteilen beizutragen, ist ein zentrales Anliegen der Initiative. Besonders den Kommunen und der Zivilgesellschaft kommt hierbei eine wichtige Rolle zu. Vertrauen kann durch die Begegnung in einer offenen, solidarischen Atmosphäre wachsen. Dafür arbeiten die vielen Tausend Haupt- und Ehrenamtlichen, die jedes Jahr die Interkulturelle Woche vor Ort organisieren und koordinieren. Die helfen, dass in über 500 Städten und Gemeinden rund 5000 Veranstaltungen stattfinden, dieses Jahr unter dem Motto „Zusammen leben, zusammen wachsen.“ Ohne sie würde es die Interkulturelle Woche nicht geben. Die Aktionswoche will darüber hinaus zeigen, wie das ganze Jahr über ehren- und hauptamtliches Engagement dazu beiträgt, dass Vielfalt gelebt werden kann, wenn Sie auf dem Fundament der Grund-und Menschenrechte steht. Dadurch wirbt die Interkulturelle Woche auch dafür, sich zu engagieren.

Denn, so schreiben die Vorsitzenden der drei Kirchen im „Gemeinsamen Wort“ 2019: „Der Erhalt von Grundrechten und Demokratie geschieht (…) nicht von selbst. Wir sind als Bürgerinnen und Bürger immer wieder neu gefordert, uns dafür einzusetzen, in der Politik, in der Nachbarschaft, in der Kirche, in der Arbeitswelt, in der Freizeit.“

Ein Gastbeitrag von Friederike Ekol im MIGAZIN am 20. September 2019