Antisemitismus: „Wir produzieren riesige blinde Flecken“

Seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel ist das Thema Antisemitismus in Deutschland wieder mehr in den Vordergrund getreten. Foto: Adobe Stock
Antisemitismus: „Wir produzieren riesige blinde Flecken“
Der Antisemitismusforscher Klaus Holz über Jubel-Szenen in deutschen Städten angesichts des Hamas-Terrors. Wie damit umgehen?
Ein Interview von Harry Nutt

Klaus Holz, Jahrgang 1960, ist Soziologe und Antisemitismusforscher. Er ist Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland. In seiner wissenschaftlichen Arbeit hat er sich intensiv mit der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland befasst.

Herr Holz, der brutale Angriff der terroristischen Hamas auf überwiegend israelische Zivilisten hat in Deutschland sehr unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen, die von Entsetzen und Solidaritätsbekundungen bis zu Jubelszenen in muslimisch geprägten Milieus reichen. Wie haben Sie diese sehr unterschiedlichen Äußerungen wahrgenommen?
Ich habe von unterschiedlichsten Seiten, öffentlich wie privat, tiefe Bestürzung über die Morde der Hamas an Israelis wahrgenommen und teile dies voll und ganz. Das ist die einzige Reaktion, die politisch und moralisch angemessen ist. Die Morde zu feiern, ist zutiefst verwerflich. In den Jubelszenen drückt sich ein Hass auf Israel aus, der vor nichts zurückschreckt. In ganz Deutschland waren es wenige Hundert Menschen, die sich an solchen Kundgebungen beteiligten. Jeder Einzelne davon ist einer zu viel. Wir müssen uns jedoch unbedingt vor Pauschalierungen hüten, die "ganz Neukölln" oder "die Muslime" unter Verdacht stellen. Denn das ist Wasser auf die Mühlen der extremen Feinde Israels. Sie nutzen die Ausgrenzung und den Rassismus gegen Muslime hier, um den Islamismus als berechtigte Gegenwehr gegen die Arroganz und Gewalt des Westens zu legitimieren. Hierüber kann Identifikation mit den Palästinensern entstehen: Wie wir hier, werden die Palästinenser dort (nur noch viel schlimmer) verachtet und unterdrückt.

"Wir sollten weniger den Antisemitismus der anderen, als den Antisemitismus in der Mitte der deutschen Gesellschaft skandalisieren."

Spätestens seit der Documenta fifteen ist immer wieder auch die Frage nach antisemitischen Haltungen im Kulturbetrieb in den Fokus gerückt. Aktuelle Brisanz hat das Phänomen durch das Verhalten von zwei Mitgliedern des indonesischen Kuratorenkollektivs Ruangrupa erhalten, die spontane Sympathiebekundungen für die Hamas zunächst im Internet gelikt und dann wieder gelöscht haben? Hat der internationale Kunstbetrieb ein Antisemitismusproblem?
Jeder "Betrieb", jeder gesellschaftliche Bereich, nicht nur die Kunst, hat ein Antisemitismusproblem. Bei Kunst fällt das jedoch besonders auf, weil sie ausgestellt wird. Das Verhalten der beiden Mitglieder von Ruangrupa beweist, dass sie nichts aus der Auseinandersetzung um die Documenta fifteen gelernt haben. Schlimm genug, aber wir müssen uns auch die Frage stellen, warum gerade die Documenta derart in den Mittelpunkt der Antisemitismuskritik gestellt wurde. Denn tatsächlich waren auf der Documenta fifteen einige wenige Kunstwerke und Künstler antisemitisch. Es waren aber Hunderte von Objekten von Hunderten von Künstlern zu sehen. Sich auf dieses Antisemitismusproblem so sehr zu fokussieren, hat auch damit zu tun, dass wir damit den Antisemitismus bei den anderen, den Fremden, den Nichtdeutschen skandalisieren. Zugleich aber erhält mit der AfD der Antisemitismus in Deutschland immer mehr Gewicht. Oder ein Aiwanger gewinnt wegen des Skandals um ein neonazistisches Flugblatt an Stimmen und bleibt Partner der CSU. Oder ein Martin Walser wird mit höchsten Würdigungen zu Grabe getragen trotz seiner infamen antisemitischen Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Wir sollten weniger den Antisemitismus der anderen, sei es in Neukölln, sei es in Kassel, als den Antisemitismus in der Mitte der deutschen Gesellschaft skandalisieren.

"Die einseitige Verteufelung Israels mündet in eine Solidarität mit Gruppen wie der Hamas."

Klaus Holz
Klaus Holz forscht unter anderem zur Geschichte des Antisemitismus in Deutschland. Foto: Peter van Heesen

Sie haben sich intensiv mit dem Phänomen des israelbezogenen Antisemitismus beschäftigt und dabei insbesondere Erscheinungsformen eines linken sowie eines islamistischen Antisemitismus herausgearbeitet. Wie äußern sich diese, und in welchem Spannungsfeld stehen sie zueinander?
Beide sind einerseits sehr verschieden: Der linke Antisemitismus ist religionsfeindlich, der islamistische versteht sich als die einzig wahre Religion. Diese beiden Selbstbilder und die Menschen, die das anspricht, sind sehr verschieden. Linke und Islamisten sind sich deshalb meist feindlich gesonnen. Diese beiden politischen Strömungen aber können sich andererseits treffen, wenn sie das gleiche Feindbild entwickeln. Das ist – im linken Spektrum eher randständig, im islamistischen zentral – der Antisemitismus. Die Gemeinsamkeit liegt dabei darin, dass sich dieser Antisemitismus (zumindest vordergründig) hauptsächlich als Antisemitismus gegen Israel äußert. Israel erscheint links wie islamistisch dann als Inbegriff des Westens, des Kolonialismus und Imperialismus. Deshalb müsse man sich mit dem „palästinensischen Kampf“ solidarisieren, sei es im Namen internationaler oder islamischer Solidarität. Linke, im Kunstbetrieb oder wo auch immer, denen die Solidarität mit Palästina wichtig ist, müssen sich dringend mit der Komplexität des Nahostkonfliktes auseinandersetzen und sich in aller Klarheit vom israelbezogenen Antisemitismus abgrenzen. Die einseitige Verteufelung Israels mündet in eine Solidarität mit Gruppen wie der Hamas. Das ist völlig inakzeptabel und gibt alle linken Werte zugunsten des Antisemitismus auf.

Von verschiedenen Seiten wird nun gefordert, dass insbesondere deutsche Kultureinrichtungen sich solidarisch mit Israel zeigen sollten. Was halten Sie von solchen Appellen?
Natürlich ist es richtig, dass sich angesichts der Morde der Hamas deutsche Kultureinrichtungen solidarisch mit Israel zeigen. Solche Appelle suggerieren allerdings auch, dass hauptsächlich Kultureinrichtungen das Problem seien. Damit wird die Diskussion auf eine Ebene gelenkt, die an zentralen Problemen vorbeigeht. Wir müssen andere Fragen ins Zentrum rücken: Solidarität mit Israel wird auch bekundet, um sich vor Kritik zu schützen. Die AfD zum Beispiel trägt eine vermeintliche Unterstützung Israels als Schutzschild vor sich her, hinter dem sie den grassierenden Antisemitismus in ihrer Partei, ihrer Ideologie und Wählerschaft verbirgt. Und sie verknüpft die pro-israelische Haltung mit ihrem zentralen Feindbild: den Fremden, den Migranten, den Muslimen. Diese allein seien die Antisemiten. Die vermeintliche Ablehnung des Antisemitismus dient als Begründung des Rassismus. Dieses Muster stelle ich inzwischen weit über die AfD hinaus fest: Rassismus begründet sich im Verweis auf Antisemitismus unter Migranten und Muslimen. Wir Deutschen haben unsere Vergangenheit „sauber“ aufgearbeitet, die Zugewanderten müssen das noch lernen. Das ist natürlich aberwitzig falsch, aber entlastet ungemein von selbstkritischen Fragen. Wenn wir in der öffentlichen Diskussion fast immer auf Antisemitismus in Kultureinrichtungen, bei Linken oder Muslimen abheben, produzieren wir diese riesigen blinden Flecken. Wir skandalisieren entschlossen den Antisemitismus der anderen, aber sind desinteressiert am deutschen Antisemitismus in der Breite und Mitte der Gesellschaft.

"Wir müssen die Frage stellen: Was hat der Antisemitismus mit uns, mit Deutschland, mit dem Wunsch nach Normalität zu tun? Antworten darauf werden wir nicht bei Islamisten finden."

Ihre Arbeiten legen nahe, dass weitgehend unverstandene oder zumindest vernachlässigte Formen des Antisemitismus an Bedeutung gewonnen haben. Wie damit umgehen?
Es ist paradox: Die vernachlässigten Formen sind die normalen Formen des Antisemitismus. Wir rücken die spektakulären wie auf der Documenta fifteen oder in Neukölln, wenn rund 200 Leute die Hamas für ihre Morde feiern, in den Mittelpunkt. Das verschiebt das Problem des Antisemitismus zu einem Problem der anderen. Es bleibt richtig, das zu verurteilen. Aber das ganze Problem kommt erst in den Blick, wenn wir uns um 180 Grad drehen: Warum sind so viele ganz "normale" Deutsche der Meinung, Israel verhalte sich wie Nazi-Deutschland? Warum glauben sie zugleich, dass endlich ein Schlussstrich unter die deutsche Nazi-Geschichte zu ziehen sei? Wir müssen die Frage stellen: Was hat der Antisemitismus mit uns, mit Deutschland, mit dem Wunsch nach Normalität zu tun? Antworten darauf werden wir nicht bei Islamisten oder Ruangrupa finden.

Zuletzt erschien von Klaus Holz (zusammen mit Thomas Haury) der Band "Antisemitismus gegen Israel" in der Hamburger Edition, 424 Seiten, 35 Euro.

Dieses Interview erschien zuerst am 13. Oktober 2023 in der Frankfurter Rundschau.

Weitere Informationen

Harry Nutt ist Autor für Politik und Gesellschaft aus dem bundespolitischen Berlin. Er ist Chefkorrespondent für die Berliner Zeitung und den Berliner Kurier und schreibt auch für andere Medien, unter anderem für die Frankfurter Rundschau.
Kontakt: harry.nutt@berlinerverlag.com