"Antisemitismus können wir nur gemeinsam bekämpfen"

Der Kampf gegen Antisemitismus ist wichtiger denn je. Foto: Adobe Stock
"Antisemitismus können wir nur gemeinsam bekämpfen"
Dazu braucht es Bündnisse mit Durchsetzungskraft – und einen Staat, der Verantwortung übernimmt
Nikolas Lelle

Antisemitismus ist in Deutschland auf dem Vormarsch. Kein Tag vergeht ohne antisemitischen Vorfall – und es werden immer mehr. Für das Jahr 2021 verzeichnet das Bundesinnenministerium (BMI) mehr als 3.000 antisemitische Straftaten. Ein neuer Höchststand. Wenige dieser Straftaten werden verfolgt. Kaum ein*e Täter*in wird dafür angeklagt, noch viel weniger verurteilt. 2021 wurden zwar 1506 Täter*innen ermittelt, aber nur acht verhaftet. Zwei Haftbefehle wurden ausgesprochen.

Die Diskrepanz ist verheerend und ein fatales Signal für Betroffene. Denn sie legt die Vermutung nahe, dass antisemitische Taten entweder nicht ausreichend ernst genommen oder nicht in ihrer Gefahr erkannt werden. Dabei dokumentierte das BMI 63 Körperverletzungen und andere Gewaltdelikte allein für 2021. Mindestens 24 Personen wurden verletzt, vier starben: In Königs-Wusterhausen hat ein Vater seine Frau und seine drei Kinder ermordet, weil ein von ihm gefälschtes Impfzertifikat aufflog und er an eine jüdische Weltverschwörung glaubte und Repression fürchtete. Vier Menschen wurden also 2021 aus einer antisemitischen Motivation heraus ermordet.

Die Dunkelziffer bei antisemitischen Vorfällen ist hoch

Diese Straftaten sind nur ein Teil des antisemitischen Alltags, den Jüdinnen und Juden erleben. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) dokumentiert deshalb auch antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze, um diesen Alltag besser abbilden zu können. RIAS Berlin verzeichnet für 2020 allein für die Hauptstadt 1.004 Vorfälle. Und auch das dürfte nur ein Teil des Ganzen sein. Die Dunkelziffer ist hoch.

Die Corona-Pandemie hat hier wie ein Katalysator gewirkt. Antisemitische Verschwörungserzählungen finden ein Millionenpublikum, Holocaust-Relativierungen, Täter-Opfer-Umkehr, Schuldabwehr und NS-Vergleiche werden skrupellos artikuliert, auf der Straße wie in Sozialen Medien. Gleichzeitig bekommt auch Israelhass Aufwind. Nach den Raketenangriffen im Mai 2021 auf Israel bekamen das Jüdinnen und Juden auch hier zu spüren. Demonstrationen versammelten sich vor deutschen Synagogen, Jüdinnen und Juden wurden dazu aufgefordert, sich zum Staat Israel (und dessen Politik) zu positionieren. In den Sozialen Medien wurde Anti-Israelismus wieder en vogue.

Demo gegen Israelische Politik
Bei Demonstrationen gegen die israelische Politik kommt es häufig auch zu antisemitischen Äußerungen. Foto: Patrick Perkins on Unsplash

Insbesondere israelbezogener Antisemitismus wird häufig kleingeredet und verharmlost, gar als Streitfall markiert. Das führt zu Verunsicherung, die ich etwa in Workshops im Themenbereich erlebe. Die Teilnehmer*innen wissen oft wenig über Antisemitismus als Phänomen, aber sie wissen, dass sich über Antisemitismus streiten lässt, dass es kompliziert sei. Dabei hat die Antisemitismusforschung und -bekämpfung gute Tools entwickelt, um Antisemitismus – auch den israelbezogenen – zu erkennen. Man muss sie nur nutzen (wollen).

Die Normalisierung von Antisemitismus

Diese Entwicklungen der vergangenen Jahre führen zu einer Normalisierung von Antisemitismus. So entsteht ein Klima, das für Jüdinnen und Juden zur Bedrohung wird. Der neue Höchststand antisemitischer Straftaten hat Expert*innen leider nicht überrascht. Die Einstellungsstudien zeigen seit langem, dass ein großer Teil der Menschen in Deutschland antisemitische Ressentiments hegt. Der World Jewish Congress veröffentlichte Anfang 2022 eine Studie, nach der jede*r fünfte Deutsche antisemitische Einstellungen hat; unter jungen Erwachsenen ist es sogar jede*r Dritte.

Dieser Antisemitismus ist zuallererst eine Bedrohung für Jüdinnen und Juden und jüdisches Leben. Er ist zugleich ein Angriff auf eine demokratische Gesellschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Umso mehr, da er sich durch alle politischen Milieus zieht, sie teils verbindet und gemeinsam auf die Straße bringt. Die Debatten über den Antisemitismus der Anderen sind rassistische Nebelkerzen: Antisemitismus beobachten wir in der extremen Rechten, unter Islamist*innen, in der politischen Mitte wie in Teilen der Linken. Dieses gesamtgesellschaftliche Problem braucht eine gesamtgesellschaftliche Antwort: von unten, aus der Zivilgesellschaft.

Die fordernde Zivilgesellschaft als Kontrollinstanz

Auf den Staat darf man sich hier nicht verlassen. Es ist gut, dass der deutsche Staat heute Antisemitismusbekämpfung als seine Aufgabe versteht, dass es Antisemitismusbeauftragte in Bund, Ländern und Kommunen gibt und Israels Sicherheit zur viel zitierten deutschen Staatsräson erhoben wurde. Vergessen werden darf aber nicht, wie schleppend die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit vonstattenging und immer noch geht. Unfassbar klein ist die Zahl derer, die aufgrund ihrer Beteiligung am Nationalsozialismus vor Gericht standen und verurteilt wurden. Unfassbar, wenn man sich vergegenwärtigt, was für ein Gesellschaftsverbrechen der Nationalsozialismus und die Shoah waren und wie viele Millionen Deutsche daran beteiligt waren.

Die Aufarbeitung dieser Vergangenheit ist noch lange nicht ans Ende gelangt. Im Gegenteil: Es bleibt notwendig, eine Entnazifizierung und kritische Beleuchtung der Gesinnung heutiger staatlicher Organe zu betreiben, damit eine gewissenhafte Bekämpfung von Antisemitismus überhaupt möglich wird. Hier kommt einer fordernden Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle als Kontrollinstanz zu. Dass man sich nicht auf den deutschen Staat verlassen darf, bekommen auch jüdische Gemeinden zu spüren. In Halle (Saale) war keine Polizei vor Ort, als ein rechtsterroristischer Attentäter an Jom Kippur 2019 versuchte, mit Waffengewalt die Synagoge zu stürmen. In Hannover beriet ein Polizist die jüdische Gemeinde in Sicherheitsfragen, der später auf einer Corona-Leugner*innen-Demo als Redner sprach.

Drei Forderungen

Dass der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung das Wort Antisemitismus enthält, ist sicher auch das Verdienst des unermüdlichen, zivilgesellschaftlichen Kampfes. Gut so. Es gibt viel zu tun. Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive stehen drei Forderungen im Zentrum:

  1. Der Staat muss anfangen, seine Verantwortung zu übernehmen und muss die vielen antisemitischen Straftaten ausermitteln. Voraussetzung dafür ist, dass Antisemitismus von staatlicher Seite überhaupt erstmal erkannt und auch als solcher benannt wird.
  2. Jüdische Gemeinden dürfen nicht länger selbst für ihre Sicherheit aufkommen müssen. Die Bundesregierung muss hier auch ihrer finanziellen Verantwortung gerecht werden.
  3. Das kommende, sogenannte Demokratiefördergesetz sollte diesen Namen auch verdienen. Wir brauchen endlich eine starke, demokratische Zivilgesellschaft, die finanziell nachhaltig und langfristig abgesichert ist, und sich nicht mehr prekär von Projektantrag zu Projektantrag hangeln muss. Die unsichere Finanzierung gefährdet nicht nur die Nachhaltigkeit von implementierten Projekten und deren Strukturen, sie hemmt auch die Entwicklung perspektivischer, langfristiger, innovativer Potentiale und bringt für Arbeitnehmer*innen eine Befristung nach der nächsten mit sich. Nicht zuletzt kann sie auch als Ausdruck einer mangelnden Wertschätzung der zivilgesellschaftlichen Arbeit von staatlicher Seite wirken. Sie verdient es aber, mehr als ernst genommen und hervorgehoben zu werden.

Denn: Es ist die demokratische Zivilgesellschaft, die die Antisemitismusbekämpfung maßgeblich voranbringt. Das ist schon lange so. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit stünde ohne Geschichtswerkstätten, Gedenkstätten, lokale Initiativen, Stiftungen und NGOS, und nicht zuletzt ohne Jüdinnen und Juden und die Inklusion ihrer Perspektiven nicht da, wo sie heute steht.

Die RIAS macht antisemitischen Alltag sichtbar

RIAS-Logo
Die RIAS ermutigt Betroffene, antisemitische Vorfälle zu melden.

Ein Paradebeispiel hierfür ist die RIAS, die heute im Bund und in vielen Bundesländern den antisemitischen Alltag sichtbar macht, indem sie eng mit jüdischen Communities in Kontakt steht und Jüdinnen und Juden ermutigt, antisemitische Vorfälle zu melden. Die Initiative zu einer zivilgesellschaftlichen Meldestruktur für antisemitische Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze kam dabei aus der Zivilgesellschaft. So werden zumindest Teile des Dunkelfeldes erhellt. Von großem Wert ist auch die Betroffenenberatungsstelle OFEK, die bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung berät – und das in bald fünf Bundesländern und in vier Sprachen.

Nicht vergessen darf man die vielen, lokalen Initiativen, die sich im ländlichen Raum dem antisemitischen Alltag entgegenstellen, die dem Vergessen und Verdrängen entgegenarbeiten, sich rechtsextremen Strukturen oder verschwörungsideologischen Mobilisierungen entgegenstellen; die mit Veranstaltungen, Workshops oder Aktionen Antisemitismus sichtbar machen und so Netzwerke und Bündnisse bilden, um als Zivilgesellschaft Antisemitismus gemeinsam zu begegnen und zu bekämpfen.

Eine Normalisierung und Verfestigung antisemitischer Codes und Metaphern

Anlässe, Antisemitismus entschieden zu bekämpfen bietet auch 2022 zur Genüge. Die Mobilisierungen der Corona-Leugner*innen dezentralisieren sich zwar, sie nehmen aber (Stand Frühjahr 2022) nicht ab. Die Debatten um eine allgemeine Impfpflicht verschafften dem Milieu für einen Moment neue Aufmerksamkeit. Ohne antisemitische Vorfälle verlaufen deren Demonstrationen und Diskussionen nicht. Vielmehr ist eine Normalisierung und Verfestigung antisemitischer Codes und Metaphern zu beobachten. Auch die Debatten um den Antisemitismus eines palästinensischen Künstlerkollektivs bei der diesjährigen documenta können ein Anlass sein, um darüber aufzuklären, was Antisemitismus ist, wie man ihn erkennen und was man gegen ihn tun kann. Außerdem jährt sich am 5. September zum 50. Mal der Münchner Anschlag auf das israelische Olympiateam durch palästinensische Terroristen – eine Möglichkeit, die Geschichte des israelbezogenen Antisemitismus in den Blick zu rücken.

Die Interkulturelle Woche kann Debatten anstoßen

Der zivilgesellschaftliche Kampf gegen Antisemitismus kann den Finger in die Wunde legen, auch das eigene Milieu kritisch in den Blick nehmen und Debatten anstoßen. Ein idealer Ort dafür ist die Interkulturelle Woche. Warum nicht in diesem Rahmen einmal jüdische Aktivist*innen und Expert*innen einladen oder eine Veranstaltung oder einen Workshop mit einer der antisemitismuskritischen Organisationen, die im Kompetenznetzwerk Antisemitismus organisiert sind, mit einem Modellprojekt bei „Demokratie Leben“ oder mit der Amadeu Antonio Stiftung organisieren?

Ich würde mich sehr freuen, wenn dieser Text eine Ermutigung ist, sich als Teil einer starken Zivilgesellschaft gegen Antisemitismus zu wehren und sich noch weiter zu engagieren. Im Oktober und November, also kurz nach der Interkulturellen Woche, finden auch die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus bundesweit und digital statt. Vielleicht ergibt sich für Sie die Möglichkeit, sich auch hieran mit eigenen Veranstaltungen zu beteiligen oder die ein oder andere Veranstaltung zu besuchen. Denn Antisemitismus können wir nur gemeinsam bekämpfen, von unten, aus der Zivilgesellschaft.

Weitere Artikel zu Themen, die für die Interkulturelle Woche relevant sind, finden Sie im aktuellen Materialheft 2022, das Sie hier bestellen können.

Weitere Informationen

Nikolas Lelle
Foto: privat

Nikolas Lelle leitet seit 2020 die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus bei der Amadeu Antonio Stiftung. Im April 2022 erschien seine Dissertation "Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe" im Verbrecher Verlag.

Kontakt: nikolas.lelle@amadeu-antonio-stiftung.de