Sinti und Roma – Sündenböcke in unsicheren Zeiten

Junge Freiwillige desinfizieren die Straßen in einem überwiegend von Roma bewohnten Viertel der bulgarischen Stadt Varna.
Sinti und Roma – Sündenböcke in unsicheren Zeiten
In Zeiten der Corona-Pandemie tritt der allgegenwärtige Antiziganismus in Europa ganz besonders deutlich zutage.
Thomas Baumann

In Zeiten der Corona-Pandemie tritt der allgegenwärtige Antiziganismus in Europa ganz besonders deutlich zutage. Wieder einmal werden Sinti und Roma pauschal diskriminiert, zum Beispiel durch den Vorwurf, sie hätten generell ein Problem mit der Einhaltung von Regeln. Pauschal werden Angehörige der Minderheit als Seuchenträger ins Visier genommen und diffamiert, auch von staatlicher Seite. Solche Mechanismen sind nicht neu, wie ein Blick in die Geschichte verrät.

Kaum ein Gesicht ist den Deutschen seit den ersten Wochen der Corona-Pandemie so vertraut, wie das von Prof. Dr. Christian Drosten. Er war es, der den Menschen mit ernster Ruhe das Corona-Virus und die Krankheit Covid-19 erklärte, der als einer der führenden Virologen die Kanzlerin und den Gesundheitsminister beriet und dessen Ratschläge die Entscheidungen der Politik maßgeblich beeinflussten. Drosten ist Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité und mit dem Institut beherbergt die berühmte Berliner Klinik eine der wichtigsten Einrichtungen zur Erforschung von Seuchen weltweit. Sie ist aber heute nicht nur führend auf diesem Gebiet, sie verdankt auch ihre Gründung einem solchen Seuchengeschehen.

1708 bis 1714 wütete die "Große Pest" in Nord- und Osteuropa. Die letzte der großen Pest-Epidemien im Ostseeraum kostete mehr als einer Million Menschen das Leben und verbreitete sich unter anderem in Polen-Litauen, Siebenbürgen, Schwedisch-Estland und nicht zuletzt im Königreich Preußen. König Friedrich I. von Preußen (1657-1713) veranlasste unter dem Eindruck der raschen Verbreitung der Seuche mit einer Kabinettsorder vom November 1709 den Bau von "Lazareth-Häusern", in denen "arme verlassene inficirte Personen […] mit nöthigem Unterhalt des Lebens verpfleget, und mit dienlichen Arztneyen versorget" werden sollten. Das daraufhin ab Mai 1710 erbaute Lazarett in Berlin war der Vorläufer des Bürgerhospitals, das ab 1727 Charité (französisch für Nächstenliebe, Wohltätigkeit) hieß.

Verordnungen und Erlasse zielen direkt auf Sinti und Roma

Ein Personenkreis sollte jedoch keinesfalls in den Genuss dieser Wohltätigkeit auf Staatskosten kommen. So bestimmte Friedrich I. im Dezember 1708, bereits ein knappes Jahr vor der besagten Kabinettsorder zur Gründung der Charité, dass aufgrund der in Polen grassierenden Pest Sinti und Roma, "welche ohnedem in Unseren Landen nicht geduldet" waren, an den Grenzen abzuweisen seien. Dies habe unabhängig davon zu geschehen, ob sie im Besitz gültiger Pässe wären oder nicht. Falls sie sich der Anordnung widersetzten, sollten sie "mit Gewalt zurück getrieben, oder Feuer auf sie gegeben werden."

Da das Edikt offensichtlich nicht vollständig zur königlichen Zufriedenheit umgesetzt wurde und "das liederliche Zigeuner-Gesinde aus inficierten oder verdächtigen Orten sich in diesen Landen einfinde", sah sich Friedrich im Oktober 1709 gezwungen, seinem Befehl Nachdruck zu verleihen. Er erinnerte seine Beamten daran, dass "nach der Strenge des königl. Pestedicts vom 12ten Decembr. 1708 mit Leib- und Lebensstraffe ohnfehlbar verfahren werden" solle. Sinti und Roma, die bei einem illegalen Grenzübertritt festgesetzt würden, seien also körperlich zu züchtigen oder sogar hinzurichten. Als die Pestwelle ein Jahr später ihren Höhepunkt erreichte, erließ er ein nochmals "geschärftes Edict", in dem er festschrieb, "dass sofort in Unserem Königreich Preußen und in allen Unseren Provinzen, […] da sich Zigeuner-Rotten blicken lassen, […] Unsere Beamte und Gerichts-Obrigkeiten auf dem Lande und in Städten besondere Galgen aufrichten lassen sollen, mit wohl leserlich eingehauenen Worten: Strafe des Diebes- und Zigeuner-Gesindels, Mann- und Weibs-Personen."

Sinti und Roma und staatliches Handeln in der Frühen Neuzeit

Solche gezielt gegen Sinti und Roma gerichteten Erlasse und Anordnungen durch die Obrigkeit lassen sich an vielen Orten in Deutschland und zu unterschiedlichen Zeiten finden, nicht nur während Seuchenereignissen. Sie dienten vor allem dem Zweck, der Bevölkerung die Sinti und Roma - genau wie die Juden - als Sündenböcke für allerlei Missstände zu präsentieren. Sie hatten aber auch noch eine weitere wichtige Funktion, die nicht die Minderheit, sondern die Mehrheitsgesellschaft im Blick hatte: Die Edikte sollten die ordnende Kraft des Staates selbst darstellen und Stärke demonstrieren. Ihre tatsächliche Durchsetzung war im frühen 18. Jahrhundert noch zweitrangig.

So ist es kein Widerspruch, dass Sinti und Roma einerseits von extremer Verfolgung und brutalen Strafen bedroht waren, andererseits sich die restliche Bevölkerung und auch die Obrigkeit mit ihnen arrangieren konnte und umgekehrt. Der Historiker Ulrich Opfermann hat dieses ambivalente Verhältnis in seiner Arbeit "Seye kein Ziegeuner, sondern kayserlicher Cornet" über die Sinti im 17. und 18. Jahrhundert beschrieben. Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma hat im vergangenen Jahr aufbauend auf seinen Forschungsergebnissen die Ausstellung "Sinti und Roma in der Frühen Neuzeit – Akzeptanz, Dissens und Kooperation" konzipiert, die die Stigmatisierung der Sinti und Roma als Außenstehende und nur auf ihre Opferrolle festgelegte Gruppe widerlegt. Sie macht vielmehr deutlich, dass es keine strikte Trennung zwischen "Mehrheitsgesellschaft" und "Minderheit" gab.

Was die Erlasse aber sehr wohl zeigen, ist, dass die Behörden – wie schon bei früheren Epidemien nach dem Dreißigjährigen Krieg – die Angehörigen der Minderheit pauschal als Seuchenträger ins Visier nahmen, die der Verbreitung der Pest Vorschub leisten würden. Sinti und Roma wurden durch die behördlichen Verordnungen nicht nur mit der ständigen Bedrohung durch Seuchen in Verbindung gebracht, sie wurden "durch Übertreibungen, Gerüchte und Erfindungen" selbst zu einer weiteren Gefahr aufgebaut, die sich wie eine Plage über Europa ausbreiten würde, wie es der Bielefelder Germanist Klaus-Michael Bogdal in seinem Buch "Europa erfindet die Zigeuner" formuliert.

Hier, in der Frühen Neuzeit, im beginnenden Zeitalter der Aufklärung, wurden also bereits die Weichen des heutigen Antiziganismus gestellt, der Sinti und Roma in der derzeitigen Corona-Pandemie verstärkt entgegenschlägt. Dieser Antiziganismus führte und führt dazu – damals wie heute –, dass viele Behörden Sinti und Roma als homogene Gruppe und pauschale Bedrohung und nie als Individuen betrachten – gerade in Krisenzeiten wie bei Seuchengeschehen.

Antiziganismus in der Corona-Krise

Heute sind die Roma vor allem in den Ländern Mittelost- und Südosteuropas akut von Rassismus und Gewalt bedroht. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sieht eine ganz konkrete Gefahr von Pogromen. Ein aktuelles Papier der Open Society Foundations (OSF) beklagt, dass in den Roma-Communities in Bulgarien und der Slowakei Soldaten, Polizisten und Beobachtungsdrohnen präsenter seien als Pflegepersonal, Ärzte und medizinisches Material. Desinformationskampagnen von Rechtspopulisten, in Kombination mit exzessiven und gezielt gegen die Minderheit gerichteten Sicherheitsmaßnahmen und Polizeigewalt, würden die Roma als Gefahr für die öffentliche Gesundheit markieren und verstärkten so den Hass, heißt es in dem Papier weiter.

In der Wochenzeitung DIE ZEIT beschreibt der Menschenrechtsaktivist Krasimir Kanew, Leiter des Helsinki-Komitees in Sofia, die Situation, mit der sich die im März aus Westeuropa nach Bulgarien zurückgekehrten Arbeitskräfte – zu einem großen Teil Roma – konfrontiert sehen: "Weil einzelne Eingereiste unter Quarantäne stehen, werden dem ganzen Roma-Kollektiv strikte Maßnahmen auferlegt. Gegenüber den anderen Bulgaren sind die Maßnahmen hingegen individuell. Das zeigt, dass die Roma als kollektive Gefahr für die Gesundheit der Bulgaren angesehen werden." Dass Abstands- und Hygieneregeln aufgrund der beengten Verhältnisse in den Siedlungen, in denen es auch oftmals an fließendem Wasser mangelt, nur schwer eingehalten werden können, ignorieren diese Maßnahmen geflissentlich. Ebenso wie die Tatsache, dass die Roma einzig aufgrund des jahrzehntelangen strukturellen Rassismus gezwungen sind, in solch menschenunwürdigen Verhältnissen zu leben.

Abriegelung der von Roma bewohnten Siedlungen und Stadtviertel, Einrichtung von Checkpoints, verstärkte und oftmals brutale Kontrollen durch die Polizei: obwohl es beispielsweise in Bulgarien kaum Corona-Fälle gibt (Stand: April 2020), wurden laut einem Bericht von Amnesty International auf lokaler Ebene neben den allgemeingültigen Corona-Regeln solche Vorschriften erlassen, die nur für die Roma gelten. Viele Bürgermeister setzten damit die Forderung rechtsextremer Parteien, die Roma in ihrer Gesamtheit als Sicherheitsrisiko zu betrachten, in die Tat um. Ähnliches lässt sich auch in Rumänien beobachten. Bei diesem behördlichen Vorgehen kommt das Vorurteil zum Tragen, Roma hätten generell ein Problem mit der Einhaltung von Regeln.

Es zeigen sich zu allen Zeiten die gleichen antiziganistischen Motive

Genau dieser pauschale Vorwurf lässt sich auch bereits in der Berichterstattung bei früheren Seuchenereignissen finden, um abschließend noch einmal einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Als im Jahr 1800 in Sevilla die Pest ausgebrochen war, schrieb die "Augsburgische Ordinari Postzeitung von Staats-, gelehrten, historisch- u. ökonomischen Neuigkeiten": "Die Stadt Sevilla hat allein durch diese Seuche 23.000 Menschen verloren. In der dortigen Vorstadt Triana, die ganz von Zigeunern bewohnt wird, welche man in Spanien Gitanos nennt, starben 12.000. – Diese Zigeuner-Kolonie ist nunmehr daselbst beynahe ganz aufgerieben. Ihre unstätige Lebensart trug nicht wenig dazu bey, daß sie durch die Pest hingerafft wurden."

Der historische Vergleich birgt in der Geschichtswissenschaft viele Fallstricke und natürlich lässt sich die Situation der Sinti und Roma, die im frühen 18. Jahrhundert in Deutschland lebten, aus vielerlei Gründen ebenso wenig wie eine Schablone auf die Situation der Sinti und Roma in Sevilla im Jahr 1800 legen wie auf die aktuelle Situation der Roma in Mittelost- und Südosteuropa. Die Rahmenbedingungen sowie die individuellen Lebensumstände waren und sind gänzlich andere. Dennoch zeigen sich die gleichen antiziganistischen Motive zu allen Zeiten und an allen Orten: Sinti und Roma werden aufgrund der ihnen zugesprochenen "Lebensart" bei Seuchengeschehen in ihrer Gesamtheit als eine Gefahr für die Gesundheit der Mehrheitsbevölkerung identifiziert, sie werden von der Obrigkeit als Sündenböcke missbraucht und sind nicht nur durch die Seuche an sich, sondern auch von Gewalt durch die Mehrheitsbevölkerung bedroht.

Aus der Geschichte lernen

Der große und entscheidende Unterschied zwischen damals und heute ist jedoch: Sinti und Roma sind Bürgerinnen und Bürger ihrer Heimatländer, ausgestattet mit den gleichen unveräußerlichen Menschenrechten, die für alle Bürgerinnen und Bürger gelten. Mittlerweile gibt es außerdem starke Selbstorganisationsstrukturen der Minderheit, die Widerstand leisten, die für eine Verbesserung der Lebenssituation kämpfen und die Verantwortung der Regierungen einfordern. Denn dass die Roma aufgrund der Diskriminierungen, die ihnen in allen Lebensbereichen entgegenschlagen – von der medizinischen Versorgung über den Zugang zu Bildung bis hin zur Möglichkeit einen Beruf auszuüben – von dem Corona-Virus besonders bedroht sind, ist ein Skandal. Die Corona-Krise lässt das jahrelange Versagen der nationalen Regierungen aber auch der Institutionen der Europäischen Union und des Europarats bei der Bekämpfung des Antiziganismus noch deutlicher zu Tage treten.

Es ist jetzt an der Zeit aus der Geschichte zu lernen, die Menschenrechte endlich durchzusetzen und dem Antiziganismus und der daraus resultierenden doppelten Bedrohung der Roma sowohl durch das Virus als auch durch rassistische Gewalt entschieden entgegenzutreten.

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Thomas Baumann
Foto: privat

Thomas Baumann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Presse-, Öffentlichkeits- und Antirassismusarbeit beim Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg.
Kontakt: thomas.baumann@sintiundroma.de