Die steinigen Wege der Organisationen der Migrant*innen

Ein Beispiel stellvertretend für Viele: Der Verein IFNIS aus Schönebeck in Sachsen-Anhalt. Foto: IFNIS
Die steinigen Wege der Organisationen der Migrant*innen
Bis ihre wichtige Rolle für das friedliche Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft anerkannt wurde, hat es lange gedauert
Anja Treichel

Manchmal treffe ich auf einer Veranstaltung jemanden, der/die sich seit den 1970er Jahren in einer der rund 14.000 in Deutschland existierenden Migrant*innenorganisationen engagiert. Seit wann die Organisation eine finanzielle Förderung erhielte, frage ich. "Seit 2015", ist keine seltene Antwort. "Dann hast du also über 40 Jahre ehrenamtlich gearbeitet, bevor zum ersten Mal Geld geflossen ist?". "Stimmt, jetzt wo du das sagst, wird es mir bewusst. Früher, weißt du, da hat uns eigentlich niemand ernst genommen."

Heute sind wir einen großen Schritt weiter, aber noch lange nicht am Ziel. Inzwischen gibt es Strukturförderungs- und andere passgenaue Förderprogramme speziell für Migrantenorganisationen (MO). Die Einsicht, dass sie einen wichtigen Beitrag für die ganze Gesellschaft leisten, setzt sich langsam durch. In "Houses of Resources" werden MO fit gemacht, die Zugänge zu Förderprogrammen verbessern sich Schritt für Schritt.

Gläserne Decken durchstoßen

Migrant*innenorganisationen sind heute überwiegend gut vernetzt und engagieren sich nicht mehr nur kulturell oder im Integrationsbereich, sondern ebnen sich Schritt für Schritt den Weg auch in andere Arbeitsgebiete und Regelstrukturen wie Jugendhilfe, Familienberatung, Stadtplanung, Pflege usw. Sie lassen sich zum Beispiel als Träger der Jugendhilfe oder als Träger der politischen Bildung anerkennen. Dabei müssen sie etliche gläserne Decken durchstoßen, Herausforderungen meistern, setzen sich Vorurteilen und Rassismus aus.

Auch in der Landschaft der sozialen Träger müssen sich MO gegen eine große Konkurrenz aus etablierten Organisationen, die seit Jahrzehnten gefördert werden, durchsetzen. Auch wenn es auf der Hand liegt, dass sich MO als Träger für Integrationsmaßnahmen, Projekte gegen Rassismus, für Empowerment, als politische Bildner*innen, als Berater*innen neu zugewanderter Familien, als authentische Vertreter*innen der migrantischen/neuen deutschen Perspektiven und für so viele andere Bereiche selbstverständlich besser eignen, so musste sich diese Einsicht doch mühsam und gegen große Widerstände durchsetzen. Typische Einwände gegen MO als Träger von Maßnahmen waren (und sind zum Teil auch heute noch): 

  • Sie seien die 5. Kolonne eines (austauschbaren) Regimes.
  • Sie nähmen es nicht so genau bei der Finanzabrechnung.
  • Sie nähmen es auch nicht so genau mit der Umsetzung ihrer eigenen Konzepte.
  • Sie kooperierten nicht so gern mit anderen, sondern blieben lieber unter sich.

Hut ab vor denen, die durchgehalten haben und jahrelang dafür gekämpft haben, dass Ehrenamtlichkeit von Hauptamtlichkeit begleitet werden muss und dass die Stimme der MO eine wichtige Perspektive bietet, die in der Gesellschaft Gehör finden sollte. Viele Menschen haben nicht nur keine Entlohnung für ihre Arbeit erhalten, sondern noch selbst Mittel in ihre Projekte gesteckt, weil sie ihnen am Herzen liegen.

"Migrant*innen vs. Einheimische" ist längst passé

Was die innere Entwicklung der MO betrifft, so durchliefen viele einen Wandel von eher homogen geprägten Vereinen, die hauptsächlich im kulturellen Bereich tätig waren, hin zu heterogenen, ethnisch und generationenübergreifend arbeitenden Organisationen, die sich in Dachverbänden vernetzen und ihre politischen Forderungen gemeinsam formulieren. Zunehmend setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass die Dichotomie von „Migrant*innen vs. Einheimischen“ schon längst von der Realität überholt wurde: "Neue Deutsche" sind in Deutschland geboren, werden aber immer noch gefragt: "Woher kommst du?" – das Verbindende sind Rassismuserfahrungen. Mehrkulturalität sowie  Mehrdeutigkeiten aller Art sind weit verbreitet, werden aber wenig wahrgenommen bzw. abgewehrt, denn man möchte lieber an eindeutigen Schubladen festhalten, in die man Menschen einsortieren kann.

Dass man heute nicht mehr wie in der 1990ern von "Fremdenfeindlichkeit" spricht, sondern dass das Wort "Rassismus" ausgesprochen werden kann, ohne dass dies sofort den Verlust der "Förderwürdigkeit" zur Folge hat, dass man Schritt für Schritt versteht, dass man mit Menschen, nicht über Menschen sprechen muss, wenn es um deren Belange geht, dass Paternalismus und gönnerhaftes "Helfen" mehr und mehr thematisiert und kritisiert werden kann, dass rassismuskritische Herangehensweisen die Vermittlung "fremder Kulturen" in Workshops mehr und mehr verdrängt – dies alles ist auch das Verdienst zahlreicher migrantischer und neuer deutscher Organisationen sowie postmigrantischer Allianzen.

Ein eigener Dachverband in Ostdeutschland

Wenn man von Einwanderung spricht, darf man nicht vergessen, dass Deutschland nach wie vor ein geteiltes Einwanderungsland ist. In Ostdeutschland existieren etliche Spezifika: Nur fünf Prozent der Migrant*innen leben in Ostdeutschland. Deren Geschichte(n) und spezifische Herausforderungen, aber auch Potenziale finden erst sehr, sehr langsam den Weg in die Erzählungen der Migration in der Bundesrepublik. Deshalb hat sich ein eigener Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst) gegründet, der die spezifischen Interessen der ostdeutschen Migrant*innen vertreten möchte. DaMOst wurde 2018 ins Leben gerufen, nachdem die fünf ostdeutschen Landesverbände bereits jahrelang Kontakte pflegten und sich einig wurden , dass ein eigener Dachverband der in Ostdeutschland lebenden Migrationsbevölkerung nötig ist, um deren Interessen auf Bundesebene zu vertreten. DaMOst erhält seit 2018 Mittel, um seine Struktur zu entwickeln. Seit 2021 unterhält der Verband eigene Büroräume in Halle/Saale, setzt derzeit mehrere Projekte um und arbeitet an der Stabilisierung der neu entstandenen Struktur.

 

Beispiele für Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland sind:

Der Ausländerrat Dresden e.V. setzt sich seit 31 Jahren für die Interessen von Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung in Dresden ein. Ziel ist die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie die Stärkung der kulturellen, sozialen und politischen Teilhabe von Migrant*innen. Dies wird erreicht durch Beratungsangebote, Bildungsprojekte, aber auch die Organisation der Interkulturellen Tage in Dresden. www.auslaenderrat.de

Der iranische Verein Füreinander - Miteinander (MiFu e.V.) wurde 2020 gegründet und hat seinen Sitz in Rostock. Der Verein setzt sich für einen interkulturellen Austausch und für ein besseres Zusammenleben zwischen Deutschen und Zugewanderten aus verschiedenen Ländern ein. Die Bildungs- und Freizeitangebote des Vereins richten sich an Einheimische und Zugewanderte. Die Mitglieder des Vereins nehmen aktiv am gesellschaftlichen Leben der Stadt teil und kooperieren mit vielen anderen Vereinen.

Die Pan-African Women’s Empowerment & Liberation Organisation PAWLO ist eine 1994 gegründete panafrikanische Frauenorganisation mit Sitz in Potsdam. PAWLO ist bundesweit aktiv. Empowerment, Chancengerechtigkeit und Entwicklungspolitik sind drei Schwerpunkte der Vereinsarbeit. Auf Bundesebene setzt sich PAWLO in der Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisationen (BKMO) für Empowerment, gegen Rassismus, Sexismus und jede andere Form der Diskriminierung und für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität ein. www.pawlo.org

Der 2018 gegründete Verein IFNIS hat seinen Sitz in Schönebeck (Sachsen-Anhalt). Zweck des Vereins ist die Förderung internationaler Gesinnung, von Toleranz auf allen Gebieten der Kultur, des Völkerverständigungsgedankens, der Bildung und der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der Verein fördert die Bildungsaktivitäten in Schönebeck und trägt zur Erhaltung kultureller Aktivitäten bei. Auf Seminaren, Tagungen und Ausstellungen in Sachsen-Anhalt ist IFNIS e. V. vertreten.

Der Verein Diamant, Sozialer Integrationsverein für Zuwanderer des Landkreises Barnim e. V., Bernau (Brandenburg) leistet Migrationssozialarbeit und Integrationsarbeit. Die Aktivitäten des Vereins zielen darauf ab, durch Vermittlung von Akzeptanz und Toleranz die Begegnung zwischen den Kulturen interessant und für alle Seiten zu einem Gewinn zu machen.

Zum Weiterlesen:
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration hat 2020 eine Studie zu Migrant*innenorganisationen abgeschlossen.

Weitere Informationen

Anja Treichel ist Geschäftsführerin und Projektleiterin beim Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst).
Kontakt: anja.treichel@damost.de