Ein Festjahr will jüdisches Leben sichtbar machen

Die "Schalömchen"-Bahn macht im Kölner Schienennetz auf das Festjahr aufmerksam.
Ein Festjahr will jüdisches Leben sichtbar machen
Seit mindestens 1700 Jahren leben Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet des heutigen Deutschland – das wird 2021 gefeiert
Sylvia Löhrmann

In diesem Jahr feiern Juden und Nicht-Juden bundesweit ein gemeinsames Festjahr: Dass das Judentum Europa maßgeblich geprägt hat und auch für Deutschland konstitutiv war, dass Jüdinnen und Juden seit mindestens 1700 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Deutschland leben – das wird in diesem Jahr gewürdigt. 2021 soll jedoch nicht nur in die Vergangenheit geschaut, sondern vor allem der Blick auf die Gegenwart gerichtet werden.

Jüdisches Leben sichtbar und erlebbar machen: Das ist das Ziel des deutsch-jüdischen Festjahres #2021JLID, das mit rund 1000 Veranstaltungen bundesweit begangen wird. »Jüdinnen und Juden sind Teil unseres gemeinsamen Wir«, betonte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung. »Die Bundesrepublik Deutschland ist nur vollkommen bei sich, wenn Juden sich hier vollkommen zu Hause fühlen«, so der Schirmherr beim Auftakt des Festjahres am 21. Februar 2021 in Köln. Denn in der Domstadt befindet sich nachweislich die älteste jüdische Gemeinde in Mittel- und Nordeuropa. Das dokumentiert ein Edikt aus dem Jahr 321, das der römische Kaiser Konstantin nach einer entsprechenden Anfrage aus Köln erließ, um auch Juden die Übernahme von Ämtern in der Stadtverwaltung zu gestatten.

Um das Festjahr vorzubereiten, wurde im April 2018 der Verein »321 - 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« gegründet – unter anderem von Abraham Lehrer, Vize-Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, dem ehemaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Prof. Dr. Jürgen Rüttgers sowie Dr. Matthias Schreiber, Kirchen- und Religionsbeauftragter beim nordrhein-westfälischen Landtag. Als General­sekretärin des Vereins, der die Erinnerungskultur schon lange ein Herzensanliegen ist, berührt mich besonders, dass unser Land erstmals ein Festjahr begeht, an dem sich jüdische wie nicht-jüdische Vereine, Verbände, Gemeinden und Institutionen gemeinsam und in vielfältiger Weise beteiligen.

GRÖSSTES LAUBHÜTTENFEST DER WELT IM SEPTEMBER

Die Interreligiosität spiegelt sich auch im Team der Kölner Geschäftsstelle wider, die von Andrei Kovacs als Hauptgeschäftsführer des Vereins und Mitglied der Synagogengemeinde Köln geleitet wird. Hier wurden Hunderte Förderanträge bundesweiter Veranstalter*innen eingereicht, deren Ausgestaltung vom Bundesinnenministerium großzügig unterstützt wird.

Hinzu kommen zahlreiche Projekte finanziell eigenständiger Kooperations­partner*innen wie Volkshochschulen, Landeszentralen für politische Bil­dung oder Stiftungen. Der Verein selbst organisiert das bundesweite Kultur- und Begegnungsfestival »Mentsh!« im Sommer sowie das weltweit größte Laubhüttenfest Sukkot XXL vom 20. bis 27. September, zu dem jüdische Gemeinden in ganz Deutschland einladen. Unmittelbar daran schließt sich die Interkulturelle Woche an, sodass es
sicher viele Synergieeffekte geben wird!

Sonderbriefmarke
Die Sonderbriefmarke "Chai - Auf das Leben!" wirbt auf vielen Briefumschlägen für das Festjahr. Foto/Design: Detlef Behr

Bereits am 11. Februar wurde die vom Kölner Designer Detlef Behr gestaltete Sonderbriefmarke »Chai – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« vom Bundesfinanzministerium und dem Verein im Beisein des Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben, Dr. Felix Klein, im Düsseldorfer Landtag vorgestellt. Niederschwellig kann so jeder zum/zur Botschafter*in des Festjahres werden, indem man einfach das kleinste Werbeplakat – das 80-Cent-Postwertzeichen »Chai – auf das Leben!« – auf einen Brief klebt und verschickt. Denn jüdisches LEBEN steht im Mittelpunkt des Festjahres.

»Jüdinnen und Juden sollten in Deutschland als LEBENDE und nicht als ÜBERlebende wahrgenommen werden.«

Vielfach wird über Jüdinnen und Juden nur als Opfer gesprochen und nicht als lebendiger Teil unserer Geschichte und heutigen Gesellschaft. Natürlich bleibt es weiterhin unsere Verantwortung, der Shoah, dem größten Zivilisationsbruch der Menschheit, als Mahnung und Auftrag zu gedenken. Dazu gehört aber auch die Begegnung mit dem heutigen Judentum. Auch unser Leitender Geschäftsführer wünscht sich eine erweiterte Perspektive: »Jüdinnen und Juden sollten in Deutschland als LEBENDE und nicht als ÜBERlebende wahrgenommen werden«, sagt Andrei Kovacs, der weiß, dass vor allem die jungen Jüdinnen und Juden nicht mehr auf die Opferrolle reduziert werden wollen.

Deshalb gibt ihnen das Festjahr eine Stimme. Auf der vereinseigenen Homepage www.2021JLID.de wurde etwa der Podcast, in dem die jüdischen Journa­list*innen Shelly Kupferberg, Mirna Funk und Miron Tenenberg wöchentlich wechselnd interessante jüdische Zeitgenossen interviewen, bislang rund 12.000-mal im In- und Ausland gestreamt. Auch unser Newsletter hat bereits Tausende Abonnenten, und um schon Kindern jüdisches Leben nahezubringen, erklärt das Puppentheater »Bubales« jüdische Feiertage. Ebenfalls sehenswert: In der Clip-Ausstellung »Jewersity« beschreiben junge Frauen und Männer, was ihr »Jüdischsein« ausmacht.

HASS UND HETZE HABEN HOCHKONJUNKTUR

Zudem will das Festjahr #2021JLID ein Zeichen gegen den erstarkenden Antisemitismus setzen. Denn wenn Deutschland 1700 Jahre jüdisches Leben würdigt, tut es das in einer Zeit, in der Hass und Hetze Hochkonjunktur haben. Er erlebe eine »Explosion des Antisemitismus in Europa und vor allem in Deutschland«, sagt Abraham Lehrer, der Vorsitzende unserer Mitgliederversammlung. Das Jahr 2020 hat einen neuen Höchststand an judenfeindlichen Angriffen zu verzeichnen: Insgesamt 2275 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund wurden bei der Polizei aktenkundig. Hatespeech und Shitstorms im Netz seien für Juden traurige Normalität, so der Vizepräsident des Zentralrats. »Es sind nicht mehr Menschen zu Antisemiten geworden. Es ist heute aber viel einfacher, die Grenzen auszutesten.«

1969 schrieb Theodor W. Adorno den berühmten Satz: »Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.« Gerade in diesen Tagen, in denen Verschwörungsmythen unter Corona-Leugnern und Impfgegnern wieder Hochkonjunktur haben, ist es umso wichtiger, den Gerüchten über »die Juden« etwas entgegenzusetzen. Eine Antwort darauf möchte das Festjahr #2021JLID geben – mit Konzerten, Lesungen, Schul-Projekten, Ausstellungen und Podiumsdiskussionen. Denn wer miteinander redet, isst, trinkt und feiert, begegnet einander und lernt sich kennen – im günstigsten Fall auch schätzen. Seien Sie dabei, bringen Sie sich vor Ort ein, machen Sie #2021JLID auch zu IHREM Festjahr! Damit aus den Lehren der Vergangenheit eine Gegenwart gestaltet werden kann, die eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen in Deutschland ermöglicht.

Dieser Text ist erschienen im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2021, das Sie hier bestellen können.

Weitere Informationen

Andrei Kovacs und Sylvia Löhrmann
Foto: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.

Sylvia Löhrmann war von 2010 bis 2017 Schulministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen. Seit Januar 2020 ist sie Generalsekretärin des Vereins »321-2021 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. Andrei Kovacs ist leitender Geschäftsführer des Vereins.    

Kontakt: presse@2021JLID.de